Zu meinen ersten Erinnerungen an die Alpen zählt eine Fahrt über die alte Brenner-Passstraße. Völlig unvermittelt fand sich unser Pkw in einer Herde Rinder wieder, die die Serpentinen hinauftrabten, um auf eine andere Weide zu wechseln. Noch oft habe ich in späteren Jahren ähnliches erlebt und die Faszination, die davon ausgeht ist schwer zu beschreiben.
Möglicherweise ist dem bergbegeisterten Fotografen Mauro Gambicorti Vergleichbares passiert und er fand dadurch die Idee zu seinem bei Edition Raetia erschienenen Bildband: „Über Gletscher und Grenzen – Die jahrtausendalte Tradition der Transhumanz in den Alpen“. Es entstand ein Buch über ein traditionelles Berufsbild, über wandernde Tiere und faszinierende Landschaften, kurzum ein wunderbares Zeitzeugnis über das Leben der Bergbauern Südtirols!
Transhumanz – Wege über die Alpen
Das Buch ist in mehrere Kapitel eingeteilt und wird durch ein Vorwort des Fotografen Mauro Gambicorti eröffnet. Fast zwanzig Jahre lang hat er Südtiroler Bauern auf ihrem Weg über die Alpen begleitet, hat sowohl Schäfer und Hirten, als auch Hütehunde und Vieh fotografisch dokumentiert. Es gibt Fotos von geschmückten Almauftrieben, Unwetterfotos und Bilder von erschöpften Menschen nach getaner Arbeit.
Es ist ein ehrliches Buch, denn es wird keine geschönte, idealisierte Bergidylle gezeigt, sondern der Alltag der Menschen, die mit den Tieren leben. Und weil Gambicorti mit ihnen mitgelaufen ist, hat er mehr erlebt, als die schöne Seite der Almwirtschaft.
Die Kulturanthropologin Anja Salzer hat das Thema der Transhumanz in entsprechende Worte gefasst, erläutert und sensibilisiert für Probleme und Veränderungen, die sich durch neuzeitliche Entwicklungen ergeben.
So begleitet der Leser die Herden und Hüter in unterteilten Kapiteln über folgende Alpenübergänge
– von Mals nach Rasass (CH)
– vom Vinschgau übers Schnalstal bis ins Ötztal (A)
– vom Pfitschtal ins Zillertal (A)
– vom Ahrntal bis ins Krimmler Achental (A)
– vom Mühlen in Taufers zu den Almen Jagdhaus und Seebach (A)
Ein interessantes Buch, für all jene, die Interesse am Leben der Bergbauern haben. Aber auch eine Möglichkeit dem Alltag zu entfliehen: die Bilder entführen vielfach in eine unbekannte Welt. Es ist ein Buch für Erwachsene, jedoch kann ich das Durchblättern mit Kindern unbedingt empfehlen. Sie werden von den Bildern mit Schafen und Kühen und von dem rauen Leben der Schäfer begeistert sein!
Über Gletscher und Grenzen
Autoren: Mauro Gambicorti | Anja Salzer
Verlag Edition Raetia
Hardcover 24 x 28,5 cm | 256 Seiten
ISBN: 978-88-7283-592-0
Aus dem Vorwort von Mauro Gambicorti – Hinter der Kamera: zwölf Jahre Transhumanz
Als ich in den 1970er-Jahren erstmals für einen Sommerurlaub nach Südtirol kam, war ich von dem Land sofort begeistert. Ich wollte die Schönheit der Landschaft und der Natur in Bildern festhalten und kaufte mir meine erste Spiegelreflexkamera – so hat meine Leidenschaft für die Fotografie begonnen. Als Sohn einer Bauernfamilie kenne ich das Leben auf dem Land und ich war nicht nur an der Berglandwirtschaft, den Höfen, der Kultur und den Bräuchen des Bergbauerntums interessiert, sondern auch am rücksichtsvollen und sorgsamen Umgang der Südtiroler mit der Umwelt. Im Laufe der Jahre bin ich mehrmals in die Täler von damals zurückgekehrt und im Juni 1996 habe ich mich mit meinen Nikons auf ein spannendes Abenteuer begeben, bei dem ich meine Leidenschaft für die Berge und die Fotografie verbinden konnte. Zwölf Jahre lang habe ich die Hirten und Herden begleitet, die sich im Spätfrühling vom Vinschgau und dem Schnalstal aus zu Fuß zu den Sommerweiden im Ötztal aufmachen. Durch diese außergewöhnliche Erfahrung habe ich die Gewohnheiten, Bräuche und Traditionen dieser Menschen unweigerlich aus nächster Nähe kennengelernt und erfahren, dass es die Transhumanz – genauso wie im Schnalstal – auch anderswo gibt: Das Vieh wird über Landesgrenzen hinweg auf Almen getrieben, die den Bauern gehören und für die sie ein Weiderecht besitzen. Dieses Recht geht darauf zurück, dass der Grundbesitz der Bauern beim Anschluss Südtirols an Italien teilweise aufgeteilt wurde: Während sich die Höfe auf
italienischem Gebiet befanden, lagen die Almen auf österreichischem Boden. Die besondere Art des Viehtriebs über die Landesgrenzen fand ich so spannend, dass ich die Hirten auch weiterhin mit meiner Kamera begleiten wollte. In Zusammenarbeit mit der Abteilung Landwirtschaft der Provinz Bozen habe ich weitere Transhumanzen in Südtirol dokumentiert: Von Mals nach Rasass, vom Pfitschtal ins Zillertal, vom Ahrntal ins Krimmler Achental und von Mühlen in Taufers bis auf die Jagdhausalmen. Im Rahmen dieser Wanderungen habe ich von 1996 bis 2015 viele aussergewöhnliche Menschen getroffen, die stark mit ihrem Land, ihren Bräuchen und Tieren verbunden sind.
Die Bilder sind auch dank ihrer Erfahrung und tatkräftigen Unterstützung entstanden. Ich möchte dieses Buch gerne ihnen und ihren Familien widmen.
Mauro Gambicorti
Aus: Über Gletscher und Grenzen, Seite 6/7
Auszug aus Transhumanz in Südtirol – eine Annäherung von Anja Salzer
Einmal, so erzählt man sich im Schnalstal und in den umliegenden Tälern, sei einem Schaf die „goldene Wandernadel“ verliehen worden. Die „Görre“, so heißt das Mutterschaf im Tiroler Dialekt, habe sich unbegleitet und ganz auf sich allein gestellt auf den weiten Weg von Laas in Südtirol über die italienisch- österreichische Grenze begeben, um auf die fruchtbaren Sommerweiden im Nordtiroler Ötztal zu gelangen.
Doch was macht die Transhumanz aus? Handelt es sich bei den Bewegungsmustern über Alpenkämme und Landesgrenzen um eine vom Menschen erdachte und bis heute erhaltene Tradition – also eine kulturelle Handlung –, eine ökonomische Strategie, das Resultat soziopolitischer Vorgänge, naturräumlicher wie klimatischer Bedingungen, oder werden die Bewegungsmuster gar von den Tieren bestimmt?
Über die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Transhumanz“ herrscht in Fachkreisen ebenso Uneinigkeit wie über dessen genaue Definition. Das Wort bezieht sich auf die lateinischen Begriffe trans („jenseits“) und humus („Erde“) und kann mit „jenseits der bebauten Erde“ übersetzt werden (Kühr 2007, 13 f.).
Eine andere Deutung geht auf das französische transhumer bzw. das spanische trashumar („wandern“ bzw. speziell „wandern von Herden“) zurück und kann als „auf dieGebirgsweide führen“ gelesen werden (Knipper 2009, 103).
Einem Eintrag im Wörterbuch der Völkerkunde zufolge ist Transhumanz eine „Sonderform räumlicher Mobilität bei viehhaltenden Gruppen in montanen (sub)alpinen Zonen. In Teilen Asiens wandern Haushalte und Herden alljährlich zwischen Winter- und höhergelegenen Sommerweiden, teils mit festen Wohnplätzen an beiden Orten. Im Alpenraum und in Teilen des Himalaja werden Viehherden während der schneefreien Zeit von Hirten auf Hochweiden gehütet. Im Herbst treibt man die Tiere zurück ins Dorf, den Ausgangspunkt der alljährlich wiederkehrenden Migration. Während die Zone um die Dörfer dem Anbau und häufig auch der Futterproduktion für die Wintermonate vorbehalten bleibt, werden die Herden über einen Teil des Jahres auf entfernten Bergwiesen gehalten, die ackerbaulich kaum nutzbar wären […].“
(Hirschberg 1999, 485).
Räumliche Mobilität, in Kombination mit der zu überwindenden Distanz oder der Häufigkeit beim Weidewechsel, stellt nicht nur in dieser, sondern auch in vielen anderen Definitionen von Transhumanz in unterschiedlichen Disziplinen ein Hauptkriterium dar. In wieder anderen Begriffsbestimmungen dient die Intensität der Flächennutzung als zentrales Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Erscheinungsformen der Weidewirtschaft. Bei der Transhumanz wird die Fläche nämlich extensiv genutzt, das heißt, sie wird nicht bestellt, um einen maximalen wirtschaftlichen Nutzen daraus zu ziehen, sondern sie wird mit minimalen Eingriffen zum Grasen und Weiden der Tiere verwendet.
Aus: Über Gletscher und Grenzen, Seite 8/9
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Der Alpenraum ist unerschöpflich in seiner Vielfalt. Kaum ist ein Tal durchquert, wartet hinter den Bergen schon das nächste Abenteuer. Ein Puzzle mit so vielen Teilen, dass es nie ganz zu Ende gespielt werden kann. Als freie Journalistin und Social Media Redakteurin schreibe ich über Land und Leute, Reiseziele, Genuss, Architektur, Gesundheit, Wandern und vieles mehr.
Schön, dass Du dieses Buch vorgestellt hast, liebe Charis. Die Transhumanz der Schafe im Schnalstal habe ich selbst einmal erlebt – die Ankunft im Schnalstal ist inzwischen zu einem lauten Volksfest verkommen, bei dem hunderte von Autos das Talende in einen Blechsee verwandeln.
Insofern haben so schöne Veröffentlichungen leider auch Nebenwirkungen.
Andreas
Das hat der Autor des Buches sicher nicht damit erreichen wollen, aber das weißt Du ja selbst: kleine Paradiese darf man nie verraten!
Das würde ich gern mit meinen Kindern ansehen. Wir fahren im August wieder zum wandern in die Dolomiten.
Ein sehr interessanter Bericht mit großartigen Bildern! Hier geht jedem Bergfreund, der sich für die bäuerlichen Traditionen in den Alpen begeistert, das Herz auf!
Danke für die sehnsuchtweckenden Rezension. Beeindruckend das symbiotische Leben mit den Tieren in gegenseitigem Respekt und Sorge ums Wohlergehen. Ländergrenzen verändern sich, die Weiderechte und damit auch die Verantwortung für die Natur, bleiben als Konstante einer ursprünglich traditionellen Lebensform. Tröstlich in einer von Quartalszahlen getriebenen Zeit.
Als Tierärztin -leider nicht in den Alpen, aber in Alpennähe- ein für mich immer spannendes Thema. Danke für den schönen Bericht!
Dieses Buch wäre ein absoluter Traum!
Seit vielen Jahren bin ich mit einer Älpler-Familie befreundet. Ich war selbst einmal dabei als die Hirten das Vieh von einer Hochalpe auf eine untere Weide getrieben haben.
Ein, wie es scheint, wirklich tolles Buch! Danke für’s Vorstellen, liebe Charis. (Das Gewinnen überlasse ich gerne den anderen.)
Die Bilder bringen sofort die Erinnerungen an das letzte Jahr wieder hoch, als ich die Gelegenheit hatte, den Übertrieb der Schnalstaler Schafe zu erleben. – Das Bimmeln der Glocken war mir noch mehrere Tage in den Ohren.
Eine wirklich sehr besondere Tradition!
Transhumanz – ich wusste, dass diese Form der alpinen Weidewirtschaft bereits in der ausgehenden Steinzeit gepflegt wurde und damit ein wohl immaterielles Kulturerbe darstellen könnte. Würde mich freuen, darüber mehr zu erfahren.
Letztes Jahr habe ich die Schafe bei der Similaunhütte gesehen und musste danach direkt recherchieren, aus welchem Tal sie dort hochgetrieben werden. Ein schönes Thema für einen Bildband.
Toll. Ich hab leider nichts zu berichten, aber ich das Buch hätte ich gern. ;-)