Bachmannpreis Live-Impressionen von Peter Breuer
„Alles wieder wie früher!“ – diese Worte werden an diesem ersten Tag des Bachmannpreises noch öfter fallen. Der erste, von dem ich den Satz höre, ist Wolfgang Tischer, der Betreiber des digitalen Literaturcafés, der ihn fröhlich einer Bekannten zuruft. Vor der großen Glastür des ORF-Sendesaals wartet er ein paar Schritte weiter auf Einlass in die Arena des größten Sommersportfestes der deutschsprachigen Literatur.
Der Hashtag #tddl, dem ich 14 Jahre lang parallel zur Übertragung auf 3Sat auf Twitter gefolgt bin, wird für mich heute zum Live-Erlebnis. Beim Public Viewing im Garten des ORF-Theaters schwenken noch die Kameraarme durch die Luft, auf der Bühne proben Cécile Schortmann und Peter Fässlacher ihre Texte und auf der Großleinwand flimmert ein Gruß der PEN-Club-Filiale Berlin vor Dutzenden von Bachmann-Liegestühlen.
Tomi Garder, der 2016 selbst in Klagenfurt gelesen hat, grüßt vom Public Viewing in Kreuzberg per Großleinwand, während ein paar Meter weiter Maskenbildnerinnen mit Puderquasten unterwegs sind. Im Garten ist es inzwischen sonnig, auf der Treppe zum Sendesaal noch deutlich wärmer und dort etwas sauerstoffarm, obwohl längst nicht alle Plätze besetzt sind. Bei der Scheinwerferprobe blinken nacheinander die leeren Sessel der Juror:innen auf, deren gläserne Wasserkrüge noch rasch befüllt werden.
„Jeder Leser ist, wenn er liest, nur ein Leser seiner selbst.“ Ingeborg Bachmann
Langsam wird es eng und ich überlasse meinen Platz einem älteren Journalisten. „Endlich ist es wieder so wie damals vor der Pandemie“, meint Moderator Peter Fässlacher in seiner Einführung und blickt in ein dicht gedrängtes Auditorium, in dem die Abstandsregeln der vergangenen Jahre eine tiefe Sehnsucht nach körperlicher Nähe ausgelöst zu haben scheinen.
Der erste Teilnehmer des Wettlesens, Jayrome C. Robinet, verteilt noch die Ausdrucke seines Textes im Publikum. Jede Reihe bekommt ein Päckchen Papier, erwartungsvolle Unruhe im Saal, die ersten fangen bereits an zu lesen, und dann steht Jayrome C. Robinet selbst hinter dem weißen Pult, das mit seinen unregelmäßig geschichteten Kanten selbst wie ein Manuskriptstapel aussieht. Der Journalist, dem ich meinen Stuhl überlassen habe, ist schon nach der ersten Textseite eingeschlafen.
Nur zehn Schritte und eine große Fernsehkamera trennen die Vortragenden von den Juror:innen, und in der Liveübertragung der aufgehängten Kontrollmonitore sieht die Szene aus wie immer, wie damals vor der Pandemie: ein gleißendes Sprachlabor mit einer lesenden und sieben abwägenden, einordnenden, lobenden und manchmal auch skeptischen Personen. In der Realität ist der Raum nur bis zur Oberkante der Kameraausschnitte ein weiß getünchtes Rund – darüber kräuselt sich schallschluckender Vorhangstoff.
Ein Open Mic für Schreibende und der Poetry Slam der Literaturkritik
Während des Lesens behält die Jury ein Pokerface, nur ab und zu huscht ein Kugelschreiber über einen Block. Die Konzentration im Saal ist so hoch, dass der Lufthauch des Umblätterns angenehm bis in die letzte Reihe zu wehen scheint. Jayrome C. Robinet liest selbstbewusst und mit einem leichten französischen Akzent, oft blitzen seine Erfahrungen aus der Spoken-Word-Szene auf – in langen Sprechpausen und deklamierten Wortspielen. Sein Text beschreibt das neue Ich eines Ich-Erzählers, der seine Geschlechtsidentität wechselt.
Als er endet, legt er sein Manuskript auf den Tisch, Applaus, eine kurze Pause, dann ergreift Mara Delius als erste der Juror:innen das Wort und es beginnt, was den Bachmannpreis so unvergleichlich macht: Textkritiken, die üblicherweise so still und abgeschieden entstehen wie die Texte, die sie verhandeln, werden zum offenen Schlagabtausch. Zunächst reihum, dann miteinander wird gestritten. Für jeden sichtbar ist, ob das, was hier vorgetragen wurde, als autonomes Kunstwerk gelesen wurde. Ob ein Text gesellschaftlich, identitätspolitisch oder gar biografisch betrachtet wird – wobei Letzteres leicht zu überprüfen wäre, weil die Autor:innen aus erster Hand antworten könnten, sie stehen schließlich nur wenige Meter entfernt.
Mit eigenen Augen die Bildregie führen: in Klagenfurt geht das
Hier im Raum des Sendesaals wird alles transparent und noch klarer, als es das am Bildschirm sein kann: Ohne Schnittregie kann beobachtet werden, wer der Juror:innen noch während des Sprechens der anderen seine Einwände hastig notiert und wer der Meinung ist, den eigenen Punkt nun deutlich genug dargelegt zu haben und langsam aber sicher aussteigt. Es ist bei aller Geschwindigkeit der einprasselnden Eindrücke trotzdem langsamer als auf Twitter, wo jeder einzelne Satz eine Kaskade von Kommentaren auslöst und daneben noch Haltungsnoten für Kleidung und Gestus der handelnden Personen vergeben werden. Beides hat seine Vorzüge, aber mir beginnt dieser reale Raum, in dem ich Beobachter bin und nicht Twitter-Zaungast, besser zu gefallen.
Irgendwann, nachdem seine Jury-Kolleg:innen über Jayrome C. Robinets Text befinden, er habe „einen bedauerlichen Bruch durch ein didaktisches Moment“, er sei kunstvoll gebaut durch „Vorausdeutungen und Motivaufnahmen“ und weise „formale Distanzen zur Schwere des Themas auf“, meldet sich Juror Klaus Kastberger zu Wort und erklärt gleich nach der ersten Lesung die Gesamtmechanik des Bachmann-Preises. Ein Text in diesem Rahmen, sagt er, sei immer das „gesamte Package aus Vorstellungsfilm, Vortrag und Text“. Und zu diesem Package gehört natürlich auch die aufgeregte Begleitung im Internet und herrliches Wetter und Klagenfurt, füge ich in einem inneren Monolog hinzu.
Der Lendhafen als Spielstätte und Mitspielstätte
Im kurzen Zeitfenster zwischen zwei Lesungen stehle ich mich aus dem Saal und verfolge die nächsten Sessions auf einem der Bachmann-Stühle im Garten des Sendesaals. Die Liegestühle, von denen es in jedem Jahr eine neue Edition gibt, prägen das Stadtbild Klagenfurts während des Wettbewerbs: Vor jedem Café, auf dem Marktplatz und selbst vor meinem Hotel findet sich Ingeborg Bachmanns Silhouette auf den bunten Sitzgelegenheiten. In diesem Jahr ist der Stuhl violett und trägt das Zitat: „Wenn alle Krüge zerspringen, was bleibt von den Tränen im Krug?“
Das Gedicht „Scherbenhügel“, aus dem die Zeilen stammen, endet: „O Aufgang der Wolken, der Worte, dem Scherbenberg anvertraut“ und bis zur Preisverleihung am Sonntag werden noch viele Worte gefügt und Jury-Wasserkrüge gefüllt – bei traditionell wolkenlosem Wörthersee-Himmel. Am Vorabend der Preisverleihung ist es dann endgültig „wie immer“ in Klagenfurt.
Die kleine Bühne zwischen den Brückenpfeilern des Lendhafens ist nun kein Public-Viewing-Ort mehr, es laden Bachmannpreisträger 2014 Tex Rubinowitz und der Wiener Architekturkritiker Maik Novotny zum Zuschauercontest. Der Titel „Rate mal mit Malina“ spielt, Bachmann-Kenner ahnen es, auf den einzigen erschienenen Roman der Autorin an. Die Rätselhaftigkeit des Werks „Malina“ sorgte im Laufe der Jahrzehnte für Regalbretter von Sekundärliteratur, deren Seitenzahl den eigentlichen Roman um ein Vielfaches übertrifft.
Der Fragenkatalog, mit dem die beiden Quizmaster zum Kampf um die traditionell verliehene Wassermelone aufrufen, ist kaum weniger knifflig als die Ausdeutung des Bachmann-Romans, aber er ist lösbar. Komplett allerdings nur vom popkulturell und auch sonst mit allen Wassermelonen gewaschenen Siegerteam der Vorjahre.
Also alles wie immer in Klagenfurt und doch oft auch überraschend neu: Am nächsten Tag wird nämlich Valeria Gordeev für ihren dichten Text über einen Menschen mit Putzzwang gewinnen. Nicht nur die literarische Beschäftigung mit einer Reinlichkeits-Neurose ist ungewöhnlich, auch die Jury ist sich selten einig über diesen besonderen Text.
Über Ingeborg Bachmann
Die österreichische Schriftstellerin wurde am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren. Ihr Vater, von Beruf Lehrer, stammte aus dem nahe gelegenen Gailtal, ihre Mutter aus Niederösterreich. Ingeborg Bachmann besuchte bis 1944 die Schule in Klagenfurt und studierte an den Universitäten Innsbruck, Graz und Wien Philosophie, Psychologie, Germanistik und Rechtswissenschaften.
Im Laufe ihres Lebens begegnete die weithin anerkannte Dichterin zahlreichen prominenten Persönlichkeiten.
Sie starb in Rom an den Folgen eines Wohnungsbrandes in der Nacht zum 17. Oktober 1973.
Alle Infos, um den Bachmannpreis live in Klagenfurt zu erleben
Die Klagenfurter „Tage der deutschsprachigen Literatur“ sind ein Treffpunkt für Literaturschaffende, Literaturinteressierte und Journalisten. Die Sender ORF und 3sat übertragen den Bachmannpreis live aus der Kärntner Landeshauptstadt.
Das Wettlesen und die damit verbundene Juryrunde wurde 1977 ins Leben gerufen. Neben dem Ingeborg-Bachmann-Preis, dem Hauptpreis des „Bewerbs“, wie die korrekte Bezeichnung ist, werden der Kelag-Preis, der 3sat-Preis und der Deutschlandfunk-Preis vergeben. Der Text mit den meisten abgegebenen Stimmen aus der Öffentlichkeit erhält den Publikumspreis. Alle Preisträger werden am Schlusstag bekannt gegeben.
Die Lesungen der Tage der deutschsprachigen Literatur finden im ORF-Theater, Sponheimerstraße 13 statt. Sie beginnen mit einer offiziellen Eröffnung. Jeweils am Abend des ersten Lesetages lädt der Klagenfurter Bürgermeister ein ausgewähltes Publikum zum Empfang ins Schloss Maria Loretto ans Ufer des Wörthersees.
Im Archiv des ORF kann man sich über vorangegangene Lesungen und Preisträger informieren.
Public Viewing während der Lesungen
• Ingeborg-Bachmann-Park beim Funkhaus
• Lendhafen Klagenfurt
Die Teilnahme am Live-Public Viewing ist kostenfrei. Die legendären Klappstühle mit Zitaten von Ingeborg Bachmann dienen u.a. als begehrte Sitzgelegenheiten.
Bachmannpreis auf Twitter
Literaturkurs für Nachwuchstalente
Junge Autorinnen und Autoren im Alter bis 35 stellen ihre Arbeiten auf Lesungen im Robert-Musil-Haus vor. Musilmuseum, Bahnhofstraße 50, 9020 Klagenfurt
Bachmannpreis 2024 live in Klagenfurt
Die 48. Tage der deutschsprachigen Literatur finden vom 26. bis 30. Juni 2024 in Klagenfurt statt.
Alle Infos
bachmannpreis.orf.at
Über Klagenfurt und Umgebung
Das offizielle Tourismusportal für Kärnten
Toller Artikel! Danke für die Einblicke, ich kannte den Backmannpreis vorher noch garnicht
Hi Charis
Was man in Deinen Beiträgen nicht alles so erfährt. Toller Bericht. Mit Herzblut geschrieben. Finde man heute ja nur noch selten. Ich glaube ich muss nächstes Jahr auch Mal nach Klagenfurt.
Mike