In dem 2011 erschienenen Buch „Gsessn isch man lei ban Essn“ von Edition Raetia erzählen 23 Villnösser und Villnösserinnen der Jahrgänge 1919 bis 1936 aus ihrem Leben im Südtiroler Vilnößtal. Ein beeindruckendes Stück Zeitgeschichte. Ergreifend, unterhaltsam und vor allem: lehrreich.
Es war gegen Ende der achtziger Jahre. Auf der Heimreise vom Italienurlaub hörten wir Musik und plötzlich, unweit vom Brennerpass, ertönte dies: „Radio Südtirol mit dem heißen Draht zum Weltgeschehen!“ Noch heute erinnre ich mich an mein Lachen. Es kam mir verrückt vor. Hinterwäldlerisch. Aber waren wir wirklich schon viel weiter? Ich kannte noch kein Internet und auch für uns war es normal, dass wir nicht wussten, was gerade zuhause vorging. Wir hatten weder Fotos hochgeladen, noch wussten wir etwas über das schreckliche Unwetter, das tags zuvor die Gebirgsbäche um uns herum in rauschende Flüsse verwandelt hatte. In zwei Wochen Ferien hatte ich nur ein einziges Mal mit ein paar Münzen aus einer Telefonzelle angerufen. Das war normal. Was heute fast vergessen ist, war für uns Alltag.
Südtirol – Vergessene Zeiten
Der Südtiroler Radiosender – ich habe ihn leider nie wieder mit diesem ulkigen Slogan gehört. Lange Jahre war die Reise über den Brenner eine reine Transitstrecke. Südtirol war nett. Aber hier fuhren höchstens alte Leute hin. Eine Ferienregion für mich? Auf diese Idee wäre ich damals nie gekommen.
Wenn ich heute lese, was Villnösser aus der Zeit zwischen dem zweiten Weltkrieg und den sechziger Jahren schreiben, dann wundere ich mich nicht. Die Südtiroler waren nicht verwöhnt. Durch Kriegswirren, Faschismus und Option hatten gerade die Bergbauern ein hartes und entbehrungsreiches Leben hinter sich. Das Wort Urlaub und Ferien war für viele ein Fremdwort.
Das Leben der Villnösser
Man lebte vom Getreideanbau (der inzwischen kaum mehr eine Rolle spielt und wiederbelebt wird), vom holzen und man hatte ein wenig Vieh. Viele Familien ernährten sich fast ausnahmslos selbst und kauften allenfalls ein wenig Zucker oder ähnliches hinzu. Nudeln kannte man noch nicht. Was uns heute als normale Küche in Südtirol erscheint, kam vor 50 Jahren noch nicht einmal als Festtagsmahl auf den Tisch. Es gab dünne Suppen, Brei, viele Gerichte aus Getreide- und Maismehl, selten bis nie gab es Fleisch.
Die schulische Bildung litt unter der Notwendigkeit temporär italienisch stattzufinden oder wurde heimlich in sogenannten Katakombenschulen abgehalten. Schulen in denen noch alle Altersstufen gleichzeitig unterrichtet wurden, gab es noch lange nach dem Krieg. Viele Menschen, vor allem die Frauen aus den Bergdörfern lernten noch nicht einmal einen festen Beruf. Daran änderte sich auch in den fünfziger, sechziger Jahren noch nicht viel. Wer einen Bauernhof unterhielt, musste diesen am Laufen erhalten. Erst viel später, als die Technik in den sechziger Jahren so langsam Einzug in die Höfe nahm, erleichterte sich auch das Leben der Frauen.
„Damit nicht die Zeit kommt, wo niemand mehr weiß, wie es damals war …“ ist also der Beweggrund gewesen, ein Buch zu schreiben über das Leben im Villnösstal – einem der Seitentäler Richtung Dolomiten, gar nicht weit von Bozen und Brixen entfernt. Und es ist beeindruckend.
Die Villnösser Frauen und Männer werden kurz vorgestellt. Viele sind beim Erscheinen des Buches bereits um die 90 Jahre alt. Die meisten sind verwitwet. Fast alle haben ihr gesamtes Leben fast ausschließlich in diesem Tal verbracht. Diesem Abriss und einem aktuellen Foto in Farbe, folgt eine in Abschnitte unterteilte Geschichte über ihr Leben und zwischendrein gibt es Schwarz-Weiss-Fotografien. Viele Orte kennt man vom Namen. Zusammenhänge erschließen sich und wenn man googelt findet man die Orte und Höfe heute und sieht, was daraus geworden ist.
Es gibt anrührende Passagen, z.B. als die „Plawatscher Barbl“ berichtet, wie man sich die Schuhe teilte: „Unsere Jacken waren aus Schafwolle gestrickt und unsere Schuhe aus hartem Kalbleder gefertigt. … Sonntags mussten wir oft „zusammenwarten“, das heißt, die einen mussten warten, bis die anderen von der Frühmesse kamen und dann schnell deren Schuhe anziehen und zum Hauptgottesdienst eilen“.
Und es gibt lustige Stellen, vor allem immer dann wenn es um die Brautschau geht. „Ja. Villnösserin wollte mich keine, so musste ich halt um eine Auswärtige schauen….“.
Spannend sind auch die Beschreibungen aus der Nachkriegszeit bis hinein in die sechziger Jahre, wenn man sieht, mit welch einfachen und bescheidenen Mitteln jenes aufgebaut wurde, was uns heute als modernes Ferienland Südtirol begegnet. Besonders beeindruckt hat mich ein Maurer, der seine Selbstständigkeit mit Werkzeug begründete, dass er in einem einzigen Rucksack verstaute, eine Kelle war dabei, eine Wasseruhr und noch ein paar Kleinteile. Ich habe nachgeforscht. Heute hat einer seiner Söhne die Firma übernommen. Es ist ein moderner Baubetrieb geworden, der Dämmungen anbietet. Es ist doch spannend zu wissen, woraus er entstand?
Ich finde dieses Buch äußerst lesenswert. Es macht demütig und dankbar. Es zeigt, wie gut es uns heute geht und relativiert die alltäglichen Sorgen. Wer sich für die Geschichte Südtirols interessiert und gern dorthin reist, wird das Buch lieben.
Das Buch hat ein Vorwort von Reinhold Messner und ein Zeitbild von Helmut Messner, dass die wechselhafte Geschichte Südtirols von 1920 – 1960 anschaulich erläutert.
Gsessn isch man lei ban Essn
Autorin Martina Mantinger – erschienen bei Edition Raetia, 2014
Preis: € 24,90
Gebundene Broschüre mit zahlreichen Schwarz-Weiß Bildern
16,5 x 24 | 304 Seiten
ISBN: 978-88-7283-497-8
Editon Raetia hat mir ein Leseexemplar zur Verfügung gestellt.
Danke, dass Du dieses Buch empfiehlst! Man kann nachlesen, wie arm vor allem die Südtiroler Bergbauern bis weit in die 60er Jahre waren – als wir, damals noch jung, im Rahmen der Stillen Hilfe Südtirol Kleider und Schuhe auf die Höfe brachten auf denen es oft ein Dutzend Kinder gab.
Heute sind die Südtiroler neureich geworden, wollen nichts mehr geschenkt, können sich alles kaufen. Dabei sind sie nicht fröhlicher sondern nur abgehetzter, neidischer und angeberisch geworden – überall sind sie Weltmeister, im Luftgewehrschießen, im Sackhüpfen…Ladurner bei der ZEIT charakterisiert sie so: Schwankend zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Größenwahn. Geld macht also nicht nur glücklich sondern verdirbt auch den Charakter.
Andreas
Das Buch ist so toll. Ich hab es verschlungen!